STUDIO-BRIEF

Können wir einen Weg finden, architektonisch zu handeln, ohne die unbedingte bauliche Lösung vorzuschlagen, sondern prozesshaft und kooperativ, artenübergreifend und symbiotisch Zukünfte, Orte und Situationen zu gestalten? Architektonische ‚Lösungen‘ können eben auch ‘Handlungen’ sein, die bereit sind für unerwartete Ergebnisse, für Fragen und für die Debatte, worum es wirklich geht.

Inspirieren lassen wir uns bei der Konzeption, Realisation und Dokumentation unserer architektonischen Handlungen durch die Publikation ‘Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus’ von Anna L. Tsing.

Die LEONHARDSKIRCHE STUTTGART ist aufgrund ihrer prominenten Lage direkt an der B14, zwischen Bohnen- und Leonhardsviertel und angrenzend zum Innenstadtgebiet bekannt. Sie wird nicht nur als Sakralort für Gottesdienste, sondern als Veranstaltungsort für Musik und Kultur genutzt. Außerdem hat sie durch die jährlich sieben Wochen als Herberge der Vesperkirche eine starke soziale Ausrichtung und spiegelt die Diversität des Viertels wider. Durch aktuelle städtische Planungsprozesse rund um die Leonhardskirche, wie der Diskurs zur Verengung der B14, die Neugestaltung der Parkhäuser und der öffentlichen Flächen, erschließen sich von hier aus vielfältige Möglichkeits- und Experimentierräume.

Die sogenannte Leonhardsvorstadt ist also in ständigem Wandel, sowohl in sozialer als auch in physischer Hinsicht. Diese Eigenschaft werden wir ausnutzen, um beispielhaft Methoden zu entwickeln, architektonisch zu handeln und gleichzeitig beweglich, erfahrungsorientiert und transdiziplinär verwoben zu bleiben. Wir werden einen sozialen, kulturellen, physischen, politischen, religiösen oder unwägbaren Ausgangspunkt nutzen, um die Beschaffenheit eines gewählten Ortes in oder um die Leonhardskirche zu verstehen und die Beziehungen zwischen physischen Strukturen und sozial-politischen Konstrukten zu hinterfragen. Ziel ist es, dem Ort, seinen Nutzer:innen und Besucher:innen auf Basis eines erforschten Kontextes unsere kritisch-architektonischen Handlungen anzubieten.

Phase1
Beobachten und Hinterfragen – Ort und Kontext

In der ersten Phase unseres Entwurfsstudios geht es neben einer architektonischen, städtebaulichen Analyse um die architektonische Definition eines politischen, ökologischen oder sozialen Kontextes, durch den ein gewählter Ort in und/oder um die Leonhardskirche definiert und klassifiziert ist. Das bedeutet für uns nicht nur zeichnerisch zu analysieren, sondern vor allem journalistisch zu recherchieren durch was?, durch wen?, für wen?, warum? unsere konkreten Orte architektonisch informiert sind und sein sollen.

Was haben Orte mit Demokratie, Gemeinschaft und Öffentlichkeit zu tun? Gibt es Beteiligungsmomente? Wer oder was beteiligt sich? Wer oder was wird ausgeschlossen? – und warum? Wer oder was nutzt, besucht, verändert, meidet oder nimmt diesen Ort ein? Was sind raumbildende Ereignisse und Prozesse? Was ist mit dem Raum ‚dazwischen‘?


Der Begriff des Ortes beinhaltet in Bezug auf räumliche Anordnung, Materialität und Typologie eine Sensibilität für intersektionale Erfahrungen und Machtverhältnisse von Klasse, Spezies und Geschlecht.

Dimensionen, Maßstab, Materialität, Struktur, Nutzung, Nutzer:innen, Besucher:innen, Regeln, Zugänglichkeit, Hierarchien, Pflanzen, Tiere, Beschilderungen, Mobiliar, Provisorien, Grenzen, Zwischenräume, Überwachung, Infrastruktur, Anbindung, ökologische Defizite, soziale Defizite, mangelnde Öffentlichkeit, privatisierte Strukturen, Brachflächen, ungenutzter Raum, …

Methodisch sollen räumlich implizite und explizite Eigenschaften recherchiert, hinterfragt, beschrieben, aufgezeigt und dokumentiert werden. Kommunikationsmittel ist eine audio-visuelle Arbeit, in der Text, Zeichnungen, Ton und Bild zur Vermittlung des Ortes dienen.

Ist der Kontext eine Bedingung des Ortes selbst? Ist er physisch? Ist er psychisch? Ist er gesetzlich geregelt? Ist er fiktiv? Wie nutzen die Menschen den Raum? Wie identifizieren sie sich mit ihm? Wie ist die Beziehung zwischen Körper und Raum? Welche Funktion hat der Ort? Welche Funktion erfüllt der Ort innerhalb unserer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme? zu wessen Nutzen? auf wessen Kosten?

Welcher politische, soziale oder ökologische Diskurs erschließt sich für uns als Gruppe in und um die Leonhardskirche? An welchem Ort findet eine konkrete Verräumlichung des gewählten Themas statt?

Ziel von Phase1 ist es, ein vertieftes Verständnis der Zusammenhänge zwischen räumlich-physikalischen und sozial-politischen Kontexten zu erlangen. Unsere Inspirationsquelle ist hierfür das Buch ‘Der Pilz am Ende der Welt’ von Anna L. Tsing. Dabei steht im Vordergrund, die erforschten Themen durch ihre architektonischen und räumlichen Auswirkungen zu kommunizieren.

Ton-Bild-Dokumente ca. 10 MIN
Präsentation und Diskussion am 23.05.2023 um 10.00 Uhr


Phase2
Aneignen und Testen – Konzept und Prozess

Auf der Grundlage unserer Recherchen entwickeln wir Konzepte für eine kritisch-architektonische Handlung. Hierbei wird der Fokus auf den sozial-politisch konstruierten Kontext eines gewählten Ortes gelegt. Kollektive Raumentwicklung, öffentliche Diskussion und prozessorientierte Wirkung, sind Bedingung der kritisch-architektonischen Handlung.

Architektonische Handlungen sind relevant, wenn sie einen bestehenden kontextbezogenen Ort besetzen, hinterfragen, anpassen, ändern, irritieren, …. Durch diese Methoden können die wechselseitigen Beziehungen zwischen physischen und sozialen Strukturen aufgelöst, verstärkt oder verändert werden. Die kritisch-architektonische Handlung kann eine Anpassung der Zugänglichkeit, Erfahrbarkeit, Wirkung, Gestaltung und/oder Nutzung der Orte provozieren.

Was ist eine kritisch-architektonische Handlung? Bauliche Eingriffe? Workshops? Konzerte? Performance? Diskussionen? Inszenierungen? Möblierung? Tanz? …

Die Konzepte zur kritisch-architektonischen Handlung werden in der realen Umgebung vorgestellt und getestet. Dabei sollen Besucher:innen und/oder Nutzer:innen integriert und das Konzept entsprechend angepasst werden.

Gibt es radikal demokratische Orte? Wie können diese entwickelt und umgesetzt werden? Wie können Beteiligungsmomente schon während der Entstehung von Orten gesichert werden? Wie können wir sicherstellen, dass die Öffentlichkeit frühzeitig in den Entwicklungsprozess einer architektonischen Handlung einbezogen wird?

Ziel von Phase2 ist, durch das Erproben einer kritisch-architektonischen Handlung, die Anpassungsmöglichkeiten eines Kontextes, der an einen realen Ort gebunden ist, zu untersuchen. Wichtig für die Überlegungen zu Handlungskonzepten ist einen Moment der Aneignung für Nutzer:innen und Besucher:innen mitzudenken. Das bedeutet, so früh wie möglich auch den Beteiligungsmoment zu gestalten.


Phase3
Präsentieren und Dokumentieren – Ereignis und Reflexion

Basierend auf den Ergebnissen von Phase1 und Phase2 werden wir die kritisch- architektonischen Handlungen vor Ort umsetzen. Die einzelnen Gruppen werden sich bezüglich Projektgestaltung, Programmierung, Projektkommunikation, Projektausführung, … organisieren. Stichtag ist der 25. Juni 2023, der autofreie Kultursonntag auf der B14.

Die Dokumentation ist in das gesamte Semester eingebettet. Wir hinterfragen ständig, evaluieren regelmäßig und interagieren offen mit allen Spezies während des Prozesses. Dadurch bleiben wir flexibel in einem kollektiven Gestaltungsprozess.

Hat die kritisch-architektonische Handlung öffentliche Diskussionen ausgelöst? Wurde dadurch der Kontext verändert oder angepasst? Welche Erkenntnisse, Fragen oder Probleme haben sich während des Semesters ergeben? Wie geht es weiter?

Dokumentationsmittel und Abgabe ist eine essayistische Video-Produktion des gesamten Semesters.

Warum sind Handlungen, Gedanken und Körper oft nicht Teil architektonischer Debatten? Wo liegt die Verantwortung von Architekt:innen, wenn wir nicht mehr selbst bauen sondern artenübergreifend, kollaborativ, koevolutionär, symbiotisch, und inklusiv Prozesse gestalten?

Ziel von Phase3 ist es Techniken von kritisch-architektonischen Handlungen umzusetzen, zu dokumentieren und zu reflektieren. Die ständige Interaktion mit der Öffentlichkeit während des gesamten Prozesses beeinflusst die Projektentwicklung und trägt zur Komplexität und Tiefe der kritisch-architektonischen Handlung bei. Dennoch ist die Architektin / der Architekt Prozessgestalter:in, also für die Qualität des Projekts verantwortlich.

Was bedeutet also partizipatives, kooperatives, artenübergreifendes, koevolutionäres, symbiotisches Entwerfen? Welche zeitgemäßen Entwurfsmethoden sind dazu hilfreich? Wie garantieren wir ökologisch, sozial und ökonomisch faire Arbeit und Produktion in der Architektur? Wie verändert sich unser Berufsbild? Wie können wir als Architekt:innen mit suffizienten, konsistenten und resilienten Entwürfen zur Überwindung der multiplen Krisen und damit zur Klimastabilisierung, Biodiversitätserhaltung, Ernährungssicherung und Eindämmung der Ungleichheiten beitragen? Es benötigt unsere sofortige und radikale Abkehr von einer anthropozentrischen hin zu einer terrestrischen Architektur. Wie verändern sich dadurch Objekt, Raum, Form, Konstruktion, Materialität und Oberfläche? Auf welche neuen Bedarfe, Nutzungen und Funktionen ist dabei zu achten und wie sehen die daraus folgenden Nutzungs- und Erschließungstypologien aus? Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf Gebäude-, Quartiers- und Stadttypologien? Die Herausforderung besteht in nichts weniger als der NEUERFINDUNG DER ARCHITKETUR